Nordirak: Kindheit im Flüchtlingslager
Veröffentlicht amKarlsruhe, 16. Juni 2015
Sherin*, 9 Jahre, drängt sich an die Notfallpädagogin. Seit das ehrenamtliche deutsche Team der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V. im Flüchtlingslager arbeitet, weicht sie der Einsatzleiterin kaum von der Seite. Was das jesidische Mädchen, das mit ihrer Familie aus dem Sindjar-Gebirge geflohen ist, alles durchmachen musste können die Notfallpädagogen nur erahnen. Sie spricht nicht darüber.
Um Kinder wie Sherin dauerhaft bei der Verarbeitung ihrer schrecklichen Erlebnisse zu helfen, haben die Freunde der Erziehungskunst in Kooperation mit UNICEF im Nordirak neun lokale Pädagogen eingestellt und ein Büro eingerichtet. Zur Ausbildung des lokalen Teams befand sich von 29. Mai bis 12. Juni ein ehrenamtliches deutsches Team vor Ort. Das notfallpädagogische Team bestand aus erfahrenen Erlebnispädagogen, Kunsttherapeuten, Waldorferziehern sowie einem Heilpädagogen.
Gemeinsam mit den lokalen Kollegen konnte das notfallpädagogische Team in vier UNICEF-Schulen vormittags mit ca. 770 traumatisierten Kindern arbeiten. Die Arbeit mit den Kindern war gleichzeitig Teil der praktischen Ausbildung der lokalen Pädagogen. In Vor- und Nachgesprächen wurden die Workshops besprochen und analysiert. Nach und nach wurde die Leitung der pädagogischen und therapeutischen Angebote in die Hände der irakischen Kollegen übergeben. Nachmittags wurde die Fortbildung des lokalen Teams in Workshops zum Methodenverständnis weitergeführt. Auch die Traumatisierungen der Teammitglieder wurden thematisiert und notfallpädagogisch begleitet.
Nach den schrecklichen Erfahrungen der Flucht sind die Lebensumstände im Flüchtlingslager für alle Bewohner zusätzlich belastend, bei Temperaturen bis zu 45 Grad Celsius wird die Hitze in den Zelten schon früh morgens unerträglich. Doch es gibt keinen Ort wohin die Menschen gehen könnten, keine Kühlung. Wasser und Strom sind nur unregelmäßig verfügbar. Ohne Perspektiven können die Flüchtlinge ihrer Opferrolle nicht entkommen. Auch die Lehrer, die in den UNICEF-Schulen unterrichten, fühlen sich machtlos. Deshalb wurden auch für sie Fortbildungen zu den Methoden der Notfallpädagogik angeboten. Hier konnte auf das Grundlagenwissen aufgebaut werden, dass den Lehrern bereits während des letzten Einsatzes im März dieses Jahres vermittelt werden konnte. Für viele der Lehrer stand die Frage nach dem Umgang mit aggressivem und destruktivem Verhalten der Kinder im Vordergrund. In den Workshops wurden Ihnen Erklärungen für die traumabedingten Verhaltensänderungen der Kinder gegeben und mögliche pädagogische Antworten diskutiert. So sollen die Lehrer selbst gestärkt werden und ein stabilisierender Unterricht erreicht werden.
Auch für Eltern wurden Beratungen angeboten. Über 100 Mütter und Väter informierten sich über die Auswirkungen von Traumatisierungen auf ihre Kinder, über mögliche Belastungsreaktionen und einen stützenden und stabilisierenden Umgang.
Nach Ende des notfallpädagogischen Einsatzes des deutschen Teams wird die Arbeit nun von den lokalen Pädagogen übernommen. Unterstützt werden sie dabei weiterhin von einer Projektleiterin, die Arbeit vor Ort koordinieren wird.
*Name geändert
Notfallpädagogik: Pädagogische Erste Hilfe
In gewaltsamen Auseinandersetzungen kommen zu den äußeren Schäden seelische Verletzungen, die meistens sehr schwer wiegen. Viele Betroffene verlieren ihr inneres Gleichgewicht und erkranken an Trauma-Folgestörungen. Die Freunde der Erziehungskunst arbeiten mit waldorfpädagogischen Methoden und verwandten Therapieformen, um bei der Verarbeitung des Erlebten zu unterstützen. Gleichzeitig sollen die Selbstheilungskräfte der Betroffenen angeregt werden. So helfen bspw. erlebnispädagogische Übungen dabei, das Vertrauen in sich selbst und seine Mitmenschen zu stärken. Bewegungsspiele dienen dazu, schockartige Erstarrungen zu lösen. Maltherapeutische Übungen schaffen non-verbale Ausdrucksmöglichkeiten, durch die Distanz zum Erlebten hergestellt werden kann.
Die Notfallpädagogik der Freunde der Erziehungskunst ist bereits seit 2013 in der autonomen Region Kurdistan im Irak tätig. Im Rahmen zahlreicher Einsätze konnte bereits vielen Kindern weltweit geholfen werden ihre traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten und sogenannte Trauma-Folgestörungen abzumildern.
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Stichwort “Notfallpädagogik”
Die Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V. fördern weltweit Initiativen eines freien Bildungswesens. Seit 1971 setzen sie sich für die Waldorfpädagogik und für Freiheit im Bildungswesen ein. Seit 1993 organisiert und betreut das Büro in Karlsruhe internationale Freiwilligendienste in aller Welt und ermöglichte bislang über 7.000 Menschen einen sozialen Dienst in über 350 Projekten in mehr als 60 Ländern. Zurzeit nehmen jährlich rund 600 junge Menschen an den Programmen teil. Seit Sommer 2011 können Interessierte über den Verein auch einen 12-monatigen Freiwilligendienst in anthroposophischen Einrichtungen in Deutschland leisten.
Seit 2006 sind die Freunde der Erziehungskunst im Bereich „Notfallpädagogik“ tätig. In Folge von kriegerischen Auseinandersetzungen und Naturkatastrophen arbeiteten sie bislang mit psychotraumatisierten Kindern und Jugendlichen im Libanon (2006), China (2008 und 2013), Gaza (2009 – 2014), Indonesien (2009), Haiti (2010), Kirgisistan (2010), Japan (2011) und Kenia (2012 – 2013), Philippinen (2013-2015), Kurdistan-Irak (2013-2015) Bosnien und Herzegowina (2014) und Nepal (2015).